Das Selbstbestimmungsgesetz wird nun auf parlamentarischer Ebene diskutiert. Nach dem Kabinettsbeschluss Ende August folgte heute die erste Lesung im Bundestagsplenum, in der sich die Abgeordneten der Ampel-Fraktionen und Lisa Paus deutlich für Selbstbestimmung positionierten. Erstmalig wurde damit ein entsprechender Gesetzentwurf im Bundestag besprochen, welcher durch die Regierung erarbeitet wurde.
Durch das Selbstbestimmungsgesetz soll die Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen in Zukunft durch eine Selbsterklärung gegenüber dem Standesamt ermöglicht werden. Damit soll das vielfach kritisierte „Transsexuellengesetz“ (TSG) abgelöst und die Pflicht, psychologische Gutachten bzw. ärztliche Bescheinigungen für die amtliche Änderung des Geschlechtseintrags vorzulegen, abgeschafft werden.
„Das Selbstbestimmungsgesetz ist längst überfällig, um Grundrechte von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen endlich zu respektieren. Es hätte großes Potential, Diskriminierung abzubauen und Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt zu fördern. Wir blicken leider mit sehr ambivalenten Gefühlen auf den aktuellen Gesetzentwurf, da das ursprüngliche Anliegen in den Hintergrund geraten ist. In seiner jetzigen Form enthält der Gesetzentwurf Regelungen, die deutlich negative Auswirkungen mit sich bringen und Benachteiligung befördern. Wird der Entwurf nicht an entscheidenden Stellen nachgebessert, steht das Gesetz im Widerspruch zu seinem eigentlichen Ziel: Es droht weiterhin Diskriminierung“, sagt Kalle Hümpfner vom BVT*.
In der Debatte im Bundestag wurde deutlich, dass die Grundrechte von trans*, inter und nicht-binären Personen endlich geschützt und gewahrt werden müssen. Die Ampel-Fraktionen betonten wiederholt, dass Grundrechte wie Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit endlich ebenfalls für trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen gelten müssen. Mit diesen Aussagen eröffnete Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Debatte und stellte klar: „Das Transsexuellengesetz war die reine Demütigung“ und erinnerte daran, dass das Bundesverfassungsgericht schon mehrfach Paragrafen für verfassungswidrig erklärt hat. „Wir schaffen endlich klare Verhältnisse (…) und stellen uns schützend vor trans*, inter und nicht-binäre Menschen“, so Paus weiter.
Auch Anke Hennig (SPD) betonte: „Es ist notwendig, dass die Gesellschaft endlich alle Personen in ihrer Mitte akzeptiert“ und forderte „Queeres Leben muss selbstverständlich sein“. Tessa Ganserer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stellte diesen Hoffnungen die Lebensrealitäten vieler trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen gegenüber und sprach von den Sorgen, die viele Personen Jahre oder gar Jahrzehnte lang von einem Coming-out abhalten, „weil viel zu oft noch Häme, Spott, Hass, Beleidigungen und Demütigungen traurige Realität in dieser Gesellschaft sind“. Lenders (FDP) feierte das Selbstbestimmungsgesetz als „Kleines Stück Toleranz der Gesellschaft für ein großes Stück Freiheit für wenige Menschen, die es ansonsten ohnehin schon nicht leicht haben“.
Trotz dieser unterstützenden Wortbeiträge musste das Plenum immer wieder angesichts diskriminierender Aussagen zur Ordnung gerufen werden, sodass auch Abgeordnete wie Falko Droßmann (SPD) den deutlichen Appell formulierten: „Lassen Sie uns die Debatte sachlich in den entsprechenden Ausschüssen führen!“ Hennig warnte zudem, dass „bewusst Desinformation und Hetze in der Debatte gestreut“ wird, „um Misstrauen zu säen und die Gesellschaft zu spalten“.
Kalle Hümpfner vom BVT* führt dazu aus: „Die heutige Debatte im Bundestag war der Auftakt des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens. Es wurde dabei erneut deutlich, welch starken Anfeindungen von rechter Seite das Selbstbestimmungsgesetz ausgesetzt ist. Wir hoffen nun sehr, dass die Kritikpunkte, die wir in der Verbändebeteiligung und zum Kabinettsbeschluss formuliert haben, in der folgenden Ausschussanhörung diskutiert werden.“
Aus Sicht des BVT* sind Nachbesserungen an verschiedenen Punkten notwendig: Im aktuellen Entwurf ist die Einführung einer Anmeldefrist für die Änderung des Geschlechtseintrags vorgesehen, welche eine rechtliche Verschlechterung für Personen darstellt, die bisher ihren Geschlechtseintrag über das Personenstandsgesetz (PStG) ändern konnten. Ebenso wird befürchtet, dass die Regelungen zum Hausrecht und zum Abstammungsrecht Diskriminierung gegenüber dem Status Quo verschärfen. Änderungen, die zuletzt in den Kabinettsentwurf eingearbeitet wurden, werden ebenfalls kritisch bewertet: So sollen Asylbewerber*innen von der Möglichkeit, ihren Geschlechtseintrag zu ändern, ausgeschlossen und sensible Daten automatisiert an Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden.
Im Rahmen der Verbändebeteiligung hatten sich zahlreiche Verbände und Institutionen deutlich für Nachbesserungen am Selbstbestimmungsgesetz hinsichtlich menschenrechtlicher Standards ausgesprochen. Darunter fanden sich namhafte Organisationen wie Amnesty International, der Deutsche Frauenrat (DF), das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR), der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und der Paritätische Gesamtverband.
Auch aus dem feministischen Spektrum erhält die Forderung nach einem progressiven Selbstbestimmungsgesetz, das die Grundrechte von trans*, intergeschlechtlichen und nicht-binären Personen respektiert, breite Unterstützung. Die Petition „Diskriminierung und Misstrauen raus aus dem Selbstbestimmungsgesetz!“ wurde von mehr als 370 Erstunterzeichner*innen aus dem Frauen-, Gleichstellungs- und LSBTIQA*-Bereich gestartet. Inzwischen haben mehr als 15.000 Einzelpersonen die Petition mitgezeichnet.
Kalle Hümpfner erklärt dazu abschließend: „Die breite Kritik an dem Gesetzentwurf, was die Fortführung von Diskriminierung durch einzelne Regelungen angeht, muss endlich wahrgenommen und umgesetzt werden. Wir appellieren eindringlich an die Abgeordneten, die kommenden Wochen zu nutzen, um das Selbstbestimmungsgesetz zu überarbeiten.“
Diese Pressemitteilung kann hier als PDF heruntergeladen werden.
Weiterführende Links:
Eine ergänzende Kommentierung des Kabinettsentwurfs des BVT*, Stand 15.11.2023.
Link zur Petition „Diskriminierung und Misstrauen raus aus dem Selbstbestimmungsgesetz!“
Stellungnahme des BVT* zum Referent*innen-Entwurf, Stand 30.05.2023.
Stellungnahme des DGB zum Referent*innen-Entwurf, Stand Mai 2023.
Stellungnahme des Paritätischen Gesamtverbands zum Referent*innen-Entwurf, Stand Mai 2023.
Stellungnahme des Deutschen Frauenrats zum Referent*innen-Entwurf, Stand Mai 2023.
Amnesty International zum Referent*innen-Entwurf, Stand Mai 2023.
Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR) zum Referent*innen-Entwurf, Stand Mai 2023.